„Wenn Du hier ausziehen willst, dann zieh aus – ich bleibe hier.“ Das hat Kurt Gust oft zu seiner Frau gesagt, wenn er über die Pfälzer Straße 4 sprach. „Im Spaß natürlich“, sagt Ilse Gust. Ernsthaft ausziehen wollte auch sie nie. Nur den Balkon, den hätte sie damals schon gern gehabt. Dass die später an fast allen Wohnungen nachgerüstet wurden, hätte dem Schlosser der Hefe- und Spritwerke, der auch Hausmeister in der Pfälzer war, gut gefallen, meint die Witwe. Nun hält die 84-Jährige allein den Treuerekord: Seit über 60 Jahren lebt sie in der ehemaligen Werkswohnung des Unternehmens, das ebenfalls Vergangenheit ist.

Die typischen Hefehof-Häuser an der Pfälzer wirken wie brave Soldaten: Uniform, sehr ordentlich, mit Metall vor dem Bauch statt über der Schulter säumen sie die kurvige Straße. Eigentlich ist es eher eine Minisiedlung. Die einfachen, aber soliden Zwei-, Drei- oder Vierzimmerwohnungen waren früher den Beschäftigten des Werks vorbehalten. Nach dem Krieg, als der Wohnungsmarkt nicht viel hergab, sei das praktisch gewesen, sagt Ilse Gust.
Die Anfänge vom Hefehof
Begonnen hatte Fabrikdirektor Julius Dietz mit der Schaffung von Wohnraum bereits 1934. Für die steigende Zahl von Arbeitern ließ er über die Jahre 220 Wohnungen an der Pfälzer Straße bauen. Ihren Namen erhielt sie, weil Julius Dietz aus der Pfalz stammte. „Mein Mann ist mit der Firma alt geworden“, sagt Ilse Gust. Mit Luzie Braun (86), Margrit Kuhlmann (77) und Waltraut Voigt sitzt die 84-Jährige im ehemaligen Damensalon „Angelika“, gleich am Eingang der Straße. Statt Dauerwellen gibt es dort nun den Mietertreff mit Müzeyyen Göztepe. Mit Kaffee, Milchpulver und Süßem. Immer montags, von 10 bis 12 Uhr. Auch mittwochs gibt es Süßes, allerdings nachmittags.

Früher waren sie mehr, sagen die Witwen. Inzwischen sei ein Teil weggestorben, ein anderer kann oder will nicht mehr. Überhaupt sei es in der Straße ruhig geworden. „Die Kinder fehlen“, sagt Ilse Gust. „Sie können hinten gucken, sie können vorne gucken – ist alles ruhig“. Die Rentnerin vermisst den Kinderlärm. Wenn sie auf ihrem Balkon sitzt, dann sei das Klappen der Garagentore das Einzige, was zu hören sei. Auch im Flur sei es still: „Jeder macht schnell die Tür zu, jeder geht arbeiten, denkt: ,Bloß nicht so viel erzählen, das gibt Ärger‘“, sagt die 84-Jährige. Aus ihrer Sicht hat sich einiges verändert: „Viele Ältere sind gestorben, und die Jüngeren haben keine Zeit.“ Sie sagt es ohne Vorwurf. Hinter den Garagen im Hof gibt es einen Park, ganz allein für die Mieter. „Großzügig ist er, der Dietz“, sagen sie über ihren Vermieter Dr. Jobst-Walter Dietz, Hefehofchef in dritter Generation. Er hat dem weitläufigen Idyll zwischen Straße und Hefehof einen Bolzplatz, Spielgeräte, eine Rutsche auf Hügeln und hübsche Sitzgruppen zwischen Stein-Buddhas gegönnt. Und es gibt – ja, wirklich – Kunst.
Überall stehen Skulpturen, eine Installation aus Bahnschienen erinnert an alte Hefewerk-Zeiten. Damit es so bleibt, muss das Tor abgeschlossen werden. Wegen der Park-Vandalen, die sonst die Kunst zerstören und Saufgelage veranstalten. Damit hat man Erfahrung. Jeder Mieter hat deshalb einen Schlüssel, mit dem er nicht nur in den Park, sondern auch eine Abkürzung zum Hefehof nehmen kann.
Hilfsbereitschaft von Mieter und Nachbarschaft
Dietz ist stolz auf seinen Hefehof-Mikrokosmos, das ist spürbar. Geschäftig eilt er die Pfälzer Straße entlang, grüßt links und rechts. Die meisten kenne er mit Namen, einige kennen ihn noch als Dreikäsehoch. Dietz zeigt auf die nachträglich eingebaute Wärmedämmung, alte und neue Bäume und die Balkone. Alles tip-top. Auf den Chef und seine Mitarbeiter sei Verlass, sagt Müzeyyen Göztepe. „Wenn wir ein Problem im Haus haben, wird es sofort behoben.“ Zweimal hat sie für mehrere Jahre in der Pfälzer Straße gewohnt. Bei der letzten Kündigung – „mit drei Jungs war es einfach zu eng“ – habe sie geweint. Später will sie zurück. Waltraut Voigt bleibt lieber gleich. Obwohl ihr Mann immer geunkt habe: „Wenn ich mal nicht mehr bin, bist Du schneller wieder in Hamburg, als Du denken kannst.“ „Aber ich bin immer noch hier“, sagt die 74-Jährige. Sie schätzt die Hilfsbereitschaft der Nachbarn und die zentrale Lage. Die ist für viele Fluch und Segen zugleich: Busse und Züge in der Nähe, aber auch die Pendler, die tagsüber die Straße zuparken. „Aber ich habe ja Zeit, um nach Lücken Ausschau zu halten“, sagt Waltraut Voigt.

Zeit haben viele Menschen in der Pfälzer Straße. Das Durchschnittsalter schätzt Dietz auf 60 Jahre. Elisabeth und Arthur Homolka sind 78 und 79 Jahre alt und wohnen seit 48 Jahren in der Pfälzer Straße. „Die Gemeinschaft war einfach schön, als die Kinder klein waren. Damals hatten wir niemanden zum
Aufpassen, der Kindergarten war uns zu teuer – mein Mann war Alleinverdiener“, sagt Elisabeth im Rückblick. Ob die Zeit von Familien wie den Homolkas in der Pfälzer vorbei ist – wer weiß das schon. Wer sucht, der findet den Generationswechsel in der Straße. Zum Beispiel mit Sages. Was Beatrice Sage erzählt, klingt altbekannt: Die Familie liebt die Wohnlage und sie selbst die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz im Fitnesscenter des Hefehofs. Man könnte also fast wieder von einer Werkswohnung sprechen.

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Die Geschichte der Straße
Die Pfälzer Straße bekam ihren Namen 1935 auf Wunsch von Julius Dietz, dem Direktor der „Nordwestdeutschen Hefe- und Spritwerke“, er stammte aus Gutenbach in der Pfalz. Die ersten Häuser mit werkseigenen Wohnungen wurde 1934 errichtet. Von diesem Zeitpunkt an – nur unterbrochen durch die Kriegsjahre – übergab Julius Dietz pro Jahr etwas 12 Wohnungen ihrer Bestimmung, schreibt die Dewezet im Juli 1963. das Wohnungsbauprogramm des Fabrikdirektors umfasste an der Pfälzer insgesamt 250 Wohnungen, sie wurden den Betriebsangehörigen der Hefe- und Spritwerke und der Elektrizitätswerke Wesertal zur Verfügung gestellt.
Nachgezählt
- 309 Anwohner
- Davon sind 187 Frauen, 122 Männer
- 41 unter 18-Jährige
- 16 Hunde
- 10 Gewerbe
- 216 Balkone
- Einen Park für Mieter
- 1 Skulptur aus Eisenbahnschienen
- 1 Bolzplatz im Park
- 1 Fahrradhäuschen
- 1 große Nilpferdskulptur