18-16-14-10-8-6-4. Die Hausnummern im Herzen des Carl-Reese-Hofs sind ausschließlich gerade. Die ungeraden liegen in der Stichstraße gegenüber. Es ist nicht die einzige Eigenart des Neubaugebiets. Dort, wo Kreuzfeld und Neumarkter Allee mit dem Carl-Reese-Hof ein leicht schiefes Rechteck inklusive Tentakeln bilden, wurden früher Zutaten für Kuchen und Pudding produziert. Der leichte Duft von Vanille über Reeses Puddingfabrik ist längst Geschichte. Die Papierbeutelchen, auf den ein weißbemützter Koch aus dem Topfkuchen schaut, auch.

Heute stehen Neubauten dort, wo früher Produktions- und Verwaltungsgebäude neben Werkswohnungen und einer Villa standen. Die Vergangenheit wurde im Jahr 2000 dem Einmal um den Pudding Erdboden gleichgemacht – auch die Villa.
Ein kleines Quartier mit Einfamilienhäusern und verkehrsberuhigten Straßen entstand. Eingebettet ins Klütviertel mit alten Villen und beneidenswerter Infrastruktur, zieht es seit 2001 Neubürger mit eher gut gefülltem Portemonnaie an. Mittendrin befindet sich die kleine Straße mit den geraden Nummern, sie ist eine der vier „Tentakel“. Die Vorgärten sind dort vorbildlich gepflegt. Kirschlorbeer wechselt mit gestutzten Buchsbaumhecken. Brennholz stapelt sich in Einfahrten, Gartengeräte liegen in offenen Garagen.
Vor den Haustüren stehen Tonfiguren, die die Nase in den Himmel recken. Die sieben Häuser stehen eng beieinander, dazwischen kaum hohe Hecken und Zäune – zumindest das ist wie früher auf dem Fabrikgelände. Die Nachbarn gucken einander sprichwörtlich auf den Tisch. In manchen Gärten stehen Spielgeräte – allerdings nur rechts.
Das ist kein Zufall, denn im Carl-Reese-Hof 6 bis 18 wohnen die Rentner auf der einen, die Familien auf der anderen Seite. Was es mit den Hausnummern auf sich hat, weiß Harald Thönicke auch nicht so genau, aber dass die Alten zufällig links wohnen und die Jungen rechts, das weiß er sicher.


Ruth und Harald Thönicke haben als Erste im Carl-Reese-Hof gebaut, er hat sogar ein Fotoalbum von der Entwicklung des Gebiets angelegt. Foto: nin

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Ein schöner Zufall. „2001, als wir gebaut haben, habe ich es mit der Angst gekriegt, als ich sah: das nächste Haus wieder Rentner, dann wieder Rentner“, erinnert sich Ruth Thönicke. „Ich habe mich gefragt: Wo sind wir hier gelandet? Die nächsten vier Häuser waren dann Familien – das war dann schön.“ Beide fühlen sich wohl hier.
Fast wie im Kinderbuch „Möwenweg“ ist es in diesem Teil des Reese-Hofs: Eltern schauen aus Fenstern auf ihre spielenden Kindern und wenn sie es nicht tun, tun es die Nachbarn. Die springen nicht nur im Notfall ein. Thönickes schätzen ihr „Dorf in der Stadt“ – so wie früher die Menschen die Fabrik inmitten des Wohngebiets. Der Pastor a. D. aus Großenwieden ist mit seiner Frau aus Altersgründen ins Klütviertel gezogen.
Ist die Straße zu eng für die Feuerwehr?
„Ohne Auto kann man auf dem Dorf heute fast nicht mehr alt werden“, sagen sie. Immer bitten wollen sie auch nicht. Sie waren die Ersten, die auf dem Gelände gebaut haben. Seitdem dokumentiert Thönicke die Entwicklung akribisch. Auch seltene spektakuläre Ereignisse. So wie den Tag, als ein Mercedes durch die Brombeerhecke in Thönickes Garten fuhr und das Leben eines Apfelbaums beendete. 2012 brannten drei Häuser drüben bei den ungeraden Hausnummern. Zurück blieben 500 000 Euro Schaden und die Frage, ob man die Straßen auf dem Gelände zu eng für die Feuerwehr geplant habe.
Geschichte des Carl-Reese Hof



1898 verlagert die 1896 gegründete Reese-Gesellschaft ihre Produktion von der Erichstraße ins Kreuzfeld 3 bis 5. Der damals zweitgrößte deutsche Produzent von Back- und Puddingpulver, der auch Kaffee-Essenzen, Stofffarben, Seifen und Bleichsoda herstellte, ist auf Expansionskurs.
Als Gründer Carl Reese 1905 ausscheidet, konzentriert sich Mitinhaber Wilhelm Grupe auf Pudding- und Backpulver und wird für die OetkerWerke in Bielefeld zur Konkurrenz.
1912 übernimmt Oetker Hauptanteile des Werks. Es übersteht die Weltkriege und gilt in den 1950ern als Vorzeigebetrieb. Ende 1996 wird die Produktion von Pudding eingestellt, 1997 ist endgültig Schluss. Neubau statt Sanierung heißt die Devise. Nach dem Abriss 2000 entstehen Neubauten, das Areal heißt nun Carl-Reese-Hof. „Hamelns Straßen“ erschienen bei CW Niemeyer Buchverlage.
Schräg gegenüber von Thönickes wohnen Schmidt-Garbes. Vater, Mutter und vier Kinder. Ihr Haus war das letzte in der Straße, als sie 2005 einzogen. Von der Neumarkter Allee, ihrem alten Zuhause, haben sie die Veränderungen beobachtet: Abriss, Brache, langsam Neubauten. Dann, nach drei Jahren Ecuador, haben sie auch dort gebaut. Anja und Christian Schmidt-Garbe mögen die ländliche Behaglichkeit in der Stadt.
Ihm ist Ruhe wichtig, ihr die Kombination von Freiheit und Sicherheit vor der Haustür. Besonders die Lage am Wendehammer mit Fußballtor und Carport sei super. Daran, dass hier mal die Fabrik gestanden hat, denken sie kaum. Aber Anja Schmidt-Garbe weiß noch gut, wie sich die Schüler in den 80er Jahren dort etwas dazuverdient haben. Zum Idyll gehört auch ein jährliches Straßenfest. Gute Nachbarschaft wird groß geschrieben. Sogar über die Straßenbeleuchtung hat man gemeinsam entschieden – statt Laternen gab’s eigene Bewegungsmelder am Haus.
Dass die Vermarktung des Baugebietes dennoch lange dauerte, lag wohl am Preis, vermutet man. Für 250 D-Mark wurde der Baugrund damals angeboten. Die letzte Baulücke wird erst jetzt gefüllt, knapp 14 Jahre später. Nur noch wenig erinnert an das Besondere – die Fabrik mitten im Wohngebiet. Das Bild der Männer und Frauen, die in der Mittagspause in sauberen weißen Kitteln aus der Puddingfabrik in die nahegelegenen Wohnungen eilen, ist verblasst. Das Puddingpulver, das Eltern heute anrühren, stammt vielleicht immer noch von Dr. Oetker. Ob sich dort noch jemand an die Puddingfabrik in Hameln erinnert?

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Nachgezählt
- 94 Anwohner
- 1 Transformator der Stadtwerke
- 1 Katzenpostkasten
- 1 blauweißes Schaf ! 1 Spielplatz
- 1 Baustelle
- 16 junge Straßenbäume
- Vier Privatwege inklusive Schildern und Hausnummern
- 17 öffentliche Parkplätze
- 8 Straßenlaternen
- 9 Spielgeräte in Gärten
- 23 Tonfiguren
- 6 dunkelgrüne Gartenhäuschen



