Ruhig ist sie, die Berliner Straße. Sie erscheint als das ganze Gegenteil ihrer Namensgeberin. Eine Allee ist sie außerdem, also zumindest eine halbe. Große Linden, die wie Dominosteine hintereinander stehen, säumen die breite Straße auf der Südseite. Andere Straßen mit Großstadtnamen kreuzen. Für ein bisschen Heimatgefühl reicht Timo Treichel das. Er ist vor einem Jahr vom aufgeregten Berlin in die Berliner Straße nach Afferde gezogen. „Ich habe mich total in Afferde verliebt“, sagt der 26-Jährige. In der Hauptstadt hat er ein Jahr lang vergebens eine Wohnung gesucht. Für seine Verlobte zog er nach Afferde.

„Nach Berlin will ich nicht wieder zurück“, sagt er überzeugt. Zu laut, zu anonym, zu sehr Berlin. „Da kennt man höchstens den Nachnamen seiner Nachbarn, hier dagegen besuchen wir uns sogar im Haus gegenseitig.“ Dann rauchen sie zusammen eine oder er spielt mit den Kindern aus dem Erdgeschoss Fußball. Von den Flüchtlingen, die unten wohnen, lernt er gerade Arabisch. „Das Zwischenmenschliche wird hier sehr groß geschrieben“, sagt er. Treichel hat sich in das Kleinod verliebt, in die Ruhe, in das Vogelgezwitscher und ganz besonders in den königsblauen Nachthimmel. „In Berlin sieht man so gut wie nie die Sterne.“ Wenn er nachts nach draußen geht, um eine zu rauchen und in den Himmel zu schauen, steht er nur wenige Meter von der Bahnstrecke entfernt.

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Geschichte der Berliner Straße in Afferde
Die Berliner Straße in Afferde wurde Ende der 50er Jahre angelegt. Damals war Afferde noch eine selbstständige Gemeinde. Dazu noch eine sehr wohlhabende, wie die Anwohner sagen. Maggi, Sinram & Wendt und die Marienthal-Fabrik waren hier angesiedelt. Der Ortskern, „das alte Dorf“, liegt nördlich der Gleise. Die Berliner Straße war der Ausgangspunkt für das Wachstum Richtung Süden und Osten. Wer damals nach Afferde ziehen und hier ein Haus bauen wollte, musste zwangsläufig nach Süden ziehen, da dort zu jener Zeit das einzige Baugebiet ausgewiesen war. Die Bezeichnung der Straße liegt angesichts der Linden auf der Hand, schließlich ist eine von Berlins bekanntesten Straßen „Unter den Linden“. Die Bäume entlang der Berliner Straße wurden schon etwa 1959 gepflanzt.

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Gleich hinter dem Garten, auf der anderen Seite vom Maschendrahtzaun, liegen rostige Schienen in einem aufgetürmten Schotterwall. Zweimal die Stunde fährt ein Zug vorbei. „Nach einer Woche hier haben wir das einfach ignoriert“, sagt Treichel. Die Bahn ignorieren, das hat in der Straße jeder gelernt. Die Meinungen der Anwohner zum Güterverkehr sind differenziert. Statt Lastwagen auf den Autobahnen hätten viele den Transport lieber auf Schienen. Von einer möglichen Transitstrecke hinterm Garten mit Waggons im Zehn-Minuten-Takt ist aber keiner begeistert. „Wenn man in die Berliner Straße zieht, muss man eben mit der Bahn leben“, sagt Christian Scharf. Die Bahn sei nun mal schon eher da gewesen, und die Erfolgsaussichten der Bürgerinitiative vermutlich gering.

Gegen den geplanten Güterverkehr ist er trotzdem. „Wenn wirklich alle zehn Minuten ein Zug kommt, dann kann man die Schranke ja gar nicht mehr passieren.“ Scharf ist an einem Gleisabschnitt weiter westlich groß geworden, am Hastenbecker Weg. Das Rattern der Züge auf den Gleisen ist zur Begleitmusik seines Lebens geworden. „Ich höre das gar nicht mehr“, sagt der 49-jährige Industriemechaniker. Früher, da machten die Loks noch richtig Krach.
„Nach der Wende sind hier öfter Taigatrommeln vorbeigerattert“, sagt er. „Taigatrommeln“ sind alte Diesellokomotiven aus der Ukraine. „Die hat man schon von weitem gehört“, sagt Scharf. Eines der beiden Gleise ist mittlerweile stillgelegt. Das andere wurde vor Jahren repariert, „dort, wo die Schienenstöße geschweißt waren, klackerten die Züge“. Heute ist der metallene Takt einem gleichmäßigen Rauschen gewichen, nicht lauter als ein Lastwagen auf der B 83. „Ich höre eigentlich nur, wenn mal einer außer der Reihe fährt, nachts zum Beispiel.“

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der mit den Linden, wohnt das Ehepaar Henze. Die alten Häuser in der Berliner Straße sind braun verputzt und nicht gestrichen. Ihr Haus, errichtet 1956, ist eines davon. Es war eines der ersten hier. „Erst wurde gebaut, dann kam die Straße“, sagt Sabine Henze lachend. „Früher war hier alles Acker.“ Wo jetzt die Siedlung steht, stand früher Weizen. Die Bahnstation war das allererste Gebäude, dass südlich der Gleise erbaut wurde.

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Danach kamen Henze und eine Handvoll Nachbarn. Damals konnte Sabine Henze mit dem Zug zur Arbeit fahren. „Da fuhren auch noch richtige Dampfloks hier durch“, erinnert sich ihr Mann Karl-Otto. Regelmäßig blieben die Kohlenzüge an der Steigung stecken. „Dann mussten der Lokführer das Notsignal pfeifen, damit eine Schublok kam.“ Unter dicken Rauchschwaden und ohrenbetäubendem Wummern hat die den Zug dann wieder ins Rollen gebracht. „Da standen wir nachts im Bett.“ Eine Gütertransitstrecke wäre für das Ehepaar „eine Katastrophe“. Aber „irgendwo müssen die Züge ja lang“, sagt Karl-Otto Henze.